Unser wachsendes Bedürfnis nach Kontrolle

In der Psychologie wird das Grundmotiv »Kontrolle« im Sinne von steuern, lenken, regeln als »Volition« bezeichnet, also dem Willen eines Individuums, seine Entscheidungen und Handlungen bewusst zu steuern und zu kontrollieren.
Wir sprechen hier von Kontrollillusion. Die Kontrollillusion beschreibt das weit verbreitete Phänomen, bei dem Menschen glauben, mehr Einfluss auf Ereignisse zu haben als objektiv möglich.
Der Wunsch, das eigene Leben zu kontrollieren, ist ein seelisches Grundbedürfnis. Jeder Mensch möchte, soweit ihm das irgendwie möglich ist, der Autor seiner Lebensgeschichte sein, Glück und vor allem Unglück in einer für ihn erträglichen Weise selbst dosieren. Die Spannbreite dessen, was eine einzelne Person an Kontrolle braucht, um sich im Leben sicher und geborgen zu fühlen, ist individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, die Unsicherheiten locker ertragen, für sie ist das Unberechenbare sogar ein beschleunigender Faktor auf der Lebensspur. Und es gibt Menschen, deren Leben schon bei kleinsten Abweichungen ins Wanken gerät. Es gibt ein hohes Bedürfnis nach Kontrolle und es gibt ein geringes Bedürfnis nach Kontrolle. Es gibt jedoch niemanden, der ganz ohne Kontrolle existieren kann. Denn hätten wir über unser Leben gar keine Kontrolle, dann würden wir vor Angst und Entsetzen untergehen.
Die Fragen, die im Laufe des Lebens zu beantworten sind, lauten: Welches Maß an Kontrolle in welchen Bereichen ist sinnvoll und zuträglich? Und wo wird Kontrolle zum sinnlosen und vor allem vergeblichen Ritual, um die Angst zu bannen?
Seitdem es Menschen auf dieser Erde gibt, haben diese einen enormen Aufwand an Phantasie und Energie investiert, um das Leben planbar zu machen. Vergeblich. Gelehrte haben zu allen Zeiten versucht, die Kontrolle über die Unwägbarkeiten der Natur mithilfe ihrer Wissenschaften zu erlangen. Vergeblich. In frühesten Menschheitstagen wurden magische Praktiken entwickelt, die mit rituellen Mitteln und dem eigenen Bewusstsein eine Verbindung zu den Kräften herstellen wollten, die die Menschheit bestimmen. Vergeblich. Bestimmte Formen von Religiosität, nämlich die fundamentalistischen Varianten, suggerieren vollkommene Kontrolle über das Gute und das Böse im Diesseits und im Jenseits. Vergeblich. Die moderne Naturwissenschaft ersetzte die magischen Praktiken durch rational überprüfbare Methoden und verspricht seitdem mit jedem neuen Durchbruch, die Natur nun endgültig kontrollieren zu können. Vergeblich. Also bleibt es bei der nüchternen Erkenntnis: Die perfekte Kontrolle bleibt eine Illusion.
Jede Generation muss damit leben, dass die Welt, in die sie hineingeboren wurde, stets die gefährlichste aller Welten ist: Krankheiten, Unfälle, Kriege, Mord und Betrug, Klimakatastrophe und jetzt auch noch die Wirtschaftskrise. Nichts ist sicher, weder der Arbeitsplatz, noch die Rente, noch der Ehepartner. Die Bedrohungen nehmen kein Ende, im Gegenteil: Überall ist eine zunehmende Beschleunigung der Veränderungsprozesse zu beobachten, und dieses Veränderungstempo überfordert viele Zeitgenossen. Die alte Redewendung des russischen Politikers Lenin: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« ist hoch aktuell.
Wer nur auf Kontrolle setzt, erreicht jedoch meistens das Gegenteil dessen, was er sich wünscht. Das Leben wird nicht sicherer, sondern angstbesetzter. Das, was ein Mensch unbedingt festhalten will, verliert er. Ein trauriges Paradox. Stabil bleiben in einer Welt, die mit ihren tausendfachen Variablen immer labiler erscheint? Vertrauen bilden, wo Versprechen, die ein ganzes Leben halten sollen, nur noch ein kurzes Verfallsdatum haben? Angstfrei bleiben und sich einem Schicksal hingeben, das keine Gewissheiten in sich trägt? Dennoch mutig Ja zum Leben sagen? Wie geht das?
Der hilfreiche Gegenpol zur Kontrolle ist Vertrauen. Sei es zu den Eltern, zu einem guten Freund, in eine glückliche Begegnung. Sei es zu Gott. Vertrauen kann auch im späteren Leben noch erworben werden und zerstörtes Vertrauen kann sich erneuern, die Leiden eines Menschen und das Wachsen daran lassen sich nicht in pädagogische und psychologische Entwicklungsphasen und in Lehrbüchern festschreiben. Die Seele hat für alles ihre eigene Zeit, sie entzieht sich jeder herkömmlichen Kontrolle. Doch sie braucht, um eine vertrauensvolle Maßnahme bilden zu können, eine Voraussetzung.
Wenn wir uns vertrauensvoll in der Gemeinschaft mit anderen Menschen aufgehoben fühlen wollen, ist es notwendig, emotional in Kontakt zu sein – mit sich selbst und mit den Mitmenschen. Wer das nicht tut, erfährt schnell, dass das Leben zum Schwarz-Weiß-Film wird. Deshalb ist es eine unerlässliche Notwendigkeit, achtsam mit persönlichen Beziehungen umzugehen und in Beziehungen zu investieren – nur dann kann ich Vertrauen üben und das ist wiederum notwendig, wenn wir nicht der Versuchung erliegen wollen, durch ein Übermaß an Kontrolle das Leben abzutöten. Gesundes Vertrauen befreit von dem Drang nach absoluter Kontrolle und ist ein Weg in die existenzielle Freiheit.
Ihr Dr. Peter Schmidke
03.11.2025, Rubrik: Artikel, GBB-Aktuell, Kommentar schreiben,












