Das zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II)

Am 01.01.2017 beginnt nicht nur das neue Jahr, es wird auch das zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) wirksam. Soweit der nüchterne Fakt.

Unser Fürstenwalder Trainer im Pflege- und Betreuungsbereich, Herr Nagorsnik, hat sich den Gesetzentwurf angesehen, mit den bisherigen Regelungen verglichen und sich so seine Gedanken gemacht. Lesen Sie im Folgenden ein paar nicht immer ganz ernst gemeinte, aber dennoch ernsthafte Ausführungen zum zweiten Pflegestärkungsgesetz.
So, das PSG II wird 2017 wirksam.

Moment, wieso »wird wirksam«? Heißt es nicht korrekterweise, das zweite Pflegestärkungsgesetz tritt in Kraft? Eben nicht! In Kraft getreten ist das PSG II nämlich bereits am 01.01.2016. Allerdings ließ der Gesetzgeber dem MDK eine einjährige Schonfrist zwecks Testlauf und Eingewöhnung. Unangenehm für die solange weiterhin zwischen den Maschen des Pflegestufenmodels baumelnden und diejenigen Pflegebedürftigen, welche erst gar nicht als solche eingestuft waren. Wir wollen deshalb hoffen, der MDK nutzte diese gestundeten zwölf Monate angemessen.

Nun also das PSG II. Pünktlich mit den guten Vorsätzen, hoffnungsvollen Zielsetzungen sowie obligatorischem Neujahrskater schwappt hier eine Welle der Neuerungen und Verbesserungen auf uns zu. Was trägt sie mit sich?

Zählen wir’s mal auf:

  1. Einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der umfassend auch geistige wie psychische Einschränkungen (notabene Demenzerkrankungen!) einbezieht. Endlich!
  2. Ein verbessertes Begutachtungsverfahren, das Neue Begutachtungsassessment (NBA), zur Ermittlung des individuellen Pflegegrades für Erwachsene UND Kinder.
  3. Im Gefolge des NBA das Ende des bisherigen Drei-Pflegestufen-Modells. Es wird ersetzt durch fünf Pflegegrade.
  4. Die umständliche Leistungsantragsstellung für Hilfs- und Pflegehilfsmittel, Rehabilitationsmaßnahmen und Präventivmaßnahmen entfällt. Kein ärztliches Gutachten notwendig, Empfehlung des MDK-Gutachters und Einverständnis der pflegebedürftigen Person genügen. Im Gutachten festgehalten, geht’s postwendend zur Pflegekasse.

Ein kurzer Abgesang auf die in Kürze dahingeschiedenen Pflegestufen. Unbetrauert, möchte ich hinzufügen, und das hat gute Gründe. Doch de mortuis nihil nisi bene – zumindest vorerst.

Blicken wir zurück auf den Anfang, auf den ersten Januar das Jahr 1995; das am 26.05.1994 beschlossene Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) tritt in Kraft. Mehr noch, ein elftes Buch (SGB XI) des Sozialgesetzes und somit Versicherungsschutz für den Fall längerfristiger und ausgeprägter Pflegebedürftigkeit. Die deutsche Sozialversicherung erhält ihre fünfte Säule. Bislang gab’s derer nur vier, nämlich

  • Krankenversicherung
  • Unfallversicherung
  • Rentenversicherung
  • Arbeitslosenversicherung

Der Plan: Wer »zufällig« kein Großverdiener ist, aber dennoch der Pflege bedarf, rutscht nun nicht mehr automatisch in die Abhängigkeit der Sozialhilfe. Die Pflegekassen übernehmen, was finanziell zuvor allein von der Familie gestemmt wurde.

Gut klingt das Konzept und so schön abrechenbar. Der Dschungel wilder, unkontrollierbarer Pflege gerodet, einer gezirkelten Vor- und Versorgungslandschaft Raum gegeben. Der MDK soll’s abstecken, die Pflegestufen richten. Im Minutentakt können Pflegeversicherungsleistungen zugeteilt, können per Pauschalbeträgen abgegolten werden – ein wahr gewordener Buchhaltertraum. Damit wäre der Pietät wohl ausreichend Genüge getan … Befassen wir uns mit den unbestreitbaren Tatsachen.

Zwei Fragen drängen sich auf.

  1. Waren zur Vorbereitung der Pflegeversicherung auch Experten mit der Fachkompetenz Pflege geladen?
  2. Stünden die planenden Herrschaften unter Umständen der medizinischen Forschung zur Verfügung?

Vorausgesetzt, es handelte sich bei den Betreffenden tatsächlich um Exemplare der Gattung homo sapiens sapiens, verfügten sie anscheinend über ein beneidenswertes Immunsystem. Denn wer, in Agnes Karlls Namen, der selbst je auch nur einen Schnupfen hatte, kommt bitte auf den kruden Einfall, Krankenpflege mit einer vollautomatisierten Taktstraße bei BMW zu vergleichen oder wohl eher zu verwechseln?

Wie definiert sich Pflege noch mal? Pflege bedeutet Menschlichkeit, bedeutet helfen, unterstützen und beraten, wenn die Selbstversorgung im täglichen Leben nicht mehr gewährleistet ist. Also nicht alleine die Handgriffe, auch seelische Betreuung und Begleitung. Ziel der Pflege ist aber stets, Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit so lange wie möglich zu erhalten, ohne dabei mehr Hilfe zu leisten als nötig.

Wie soll das funktionieren, wenn der Helfende ständig die Uhr im Auge haben muss? Antwort – gar nicht! Wenn Herr Max Mustermann zum unterstützten Anziehen seines Hemdes fünf Minuten braucht, von der Hose ganz zu schweigen, für die gesamte Grundpflege 46 Minuten bezahlterweise zur Verfügung stehen … Tja, dann wird’s wohl nix mit »ohne mehr Hilfe zu leisten als nötig«. Dann nämlich greift die gehetzte ambulante Pflegekraft beherzt zu und macht’s halt selber. Der gesamte Ansatz der Pflegeversicherung erinnert stark an die gute alte »warm, satt, sauber«-Maxime der Funktionspflege und das zu einem Zeitpunkt, als die Bezugspflege mit ihrer Schwerpunktlegung auf Patientenbedürfnisse längst vieldiskutiertes Thema war.

In der Praxis gestaltet sich die Umsetzung für Pflegebedürftige und Pflegende weniger traumhaft. Tatsächlich schwebt das Konzept am realen Bedarf oft genug vorbei. Zudem scheinen die 1995 festgesetzten Pauschalbeträge in Granit gehauen, unbeschadet von derlei Nebensächlichkeiten wie beispielsweise der jährlichen Inflationsrate. Die Pflegestufe 1 oft als unüberwindbare Hürde, selten Stufe 2, Pflegestufe 3 ein Mythos, gleich Einhörnern laut Hörensagen in abgelegenen, unbewohnten Einöden gesichtet. Wer gibt schon gerne seine privatesten Unzulänglichkeiten zu? Wenn also der nette MDK-Gutachter darum bat, schlug man mit zusammengebissenen Zähnen die Hände über dem Kopf zusammen, probierte die Kniebeuge, präsentierte sich nach Kräften in Bestform. Ein gravierender Fehler, wie man dann bei zuerkanntem Leistungsanspruch und Pflegestufe feststellen musste. So bleibt die Sozialhilfe für viele trotz Pflegeversicherung die letzte gangbare Möglichkeit.

Kommen wir zu den Pflegehilfsmitteln. § 40 Abs. 1 SGB XI besagt, soweit nicht gemäß § 33 SGB V von Krankenversicherung oder anderen Leistungsträgern übernommen, tragen die Pflegekassen »zum Verbrauch bestimmte« und »technische Pflegehilfsmittel«, so sie zur

  • Erleichterung der Pflege
  • Linderung der Beschwerden
  • Ermöglichung einer selbstständigeren Lebensführung dienen.

In Ausführung: Beantragung bei der Pflegekasse, Überprüfung der gegebenen Notwendigkeit durch den MDK.

Technische Pflegehilfsmittel werden primär verliehen, was soweit ganz in Ordnung ist. Weniger okay, will man seinen Aldi-Chopper mit Rallyestreifen versehen oder, weniger salopp formuliert, bedarf einer »Ausstattung des Pflegehilfsmittels, die über das Maß des Notwendigen hinausgeht«, bleiben einem die Mehrkosten. Wobei, und das ist der springende Punkt, die Pflegekasse nebst MDK-Gutachter das »Maß des Notwendigen« definiert.

Zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel bedeutet »Ja« zu Handschuhen, Fingerlingen, Mundschutz, Bettunterlagen, Flächen- und Händedesinfektionsmitteln, Bettunterlagen. Inkontinenz dagegen gilt als Krankheit, demzufolge sind Erwachsenenwindeln verschreibungspflichtig. Also benötigte man ein ärztliches Attest, um es der Krankenkasse einzureichen und dies jedes Jahr von Neuem. Außer man fand einen engagierten Partner, wie das Schuck-Sanitätshaus hier in Fürstenwalde, der ab der Erstbeantragung den lästigen Papierkram mit den Kassen übernahm. Die Kosten für zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel werden monatlich bis maximal 40 € übernommen. Glück hat, bei wem während der MDK-Begutachtung bereits die Notwendigkeit besagter Pflegehilfsmittel feststellt wurde. Die Pflegekassen überweisen dann monatlich pauschal. Ansonsten hat man’s auszulegen und Quittungen einzuschicken. Anbei, beileibe nicht jeder bekam anstandslos die vollen 40 € überwiesen.

Die Pflegestärkungsgesetze, bislang drei an der Zahl, sind angetreten, um (wie bereits vom Namen unschwer abzuleiten) die Pflege zu stärken, sprich die Situation aller darin Involvierten gründlich zu verbessern. Als da sind:

* die Pflegebedürftigen selbst
* deren Angehörige als auch
* die Pflegenden.

PSG II bedeutet was? Dreh- und Angelpunkt bei der Einstufung ist der Grad der Alltagsselbstständigkeit, wobei nicht mehr nur die körperlichen, sondern ebenfalls geistige und/oder psychische Einschränkungen berücksichtigt werden. Eine der Schwächen des 3-Stufen-Modells war just die Fokussierung auf die physischen Hürden, was insbesondere Demenzerkrankte außen vor ließ. Mit dem NBA sollen nun auch diese angemessene Pflegeleistungen erhalten.

Der ressourcenorientierte Ansatz erfasst

  • den Grad der Selbstständigkeit
  • die vorhandenen Ressourcen
  • die vorhandenen Fähigkeiten
  • das Angewiesensein auf personelle Unterstützung

Sechs Lebensbereiche werden vom NBA dafür überprüft:

  • Mobilität
  • kognitive und kommunikative Fähigkeiten
  • Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
  • Selbstversorgung
  • Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
  • Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte

Die Vorteile sind eine Abbildung der konkreten individuellen Problemlage des Menschen und die systematischere Erfassung von Präventions­- und Rehabilitationsbedarf. Frühere Unterstützung ist möglich. Pflegegrad 1 erhalten bereits Menschen ohne erheblichen Unterstützungsbedarf. Das umfasst Pflegeberatung, Anpassung der Wohnungsgegebenheiten (z. B. altersgerechte Dusche) und Leistungen für allgemeine Betreuung. Wer um seine bisherige Pflegestufe fürchtet … er erhält dieselben Leistungen wie bisher oder, dank automatisch höherer Eingradung, verbesserte. Niemand soll schlechter, viele aber besser gestellt werden.

Bei aller überschäumenden Begeisterung – ein paar Schönheitsfehler sind schon jetzt erkennbar. So schlagen z. B. die einzelnen Lebensbereiche mit unterschiedlichen Prozenten zu Buche, was u. a. zu einer komplizierten Berechnung der Pflegegrade führt. Vorsorglich im Internet bereitgestellte PSG-II-Rechner sollen helfen, tun’s jedoch häufig nicht wirklich. Nun, ein paar Monate sind ja noch Zeit.

Stichworte:

 

Schreiben Sie uns


(erforderlich)

Copyright 1990 - 2024, GBB – Gesellschaft für berufliche Bildung mbH | Kontakt, Impressum, Datenschutz
einfach Bildung & Beratung - Design & Konzept: agentur einfachpersönlich