Der ewige Jammer mit der Pflegekammer

BAK, BÄK, BZÄK, BPTK und NIX …Das ist kein Zungenbrecherabzählvers für Kinder oder ein hinterhältiger Artikulationstest für angehende Fernsehmoderatoren. Das sind einfach nur Abkürzungen …

Nämlich für die vom SGB V als Leistungserbringer im Gesundheitswesen definierten Berufsgruppen plus einer traurigen Wahrheit: BAK für Bundesapothekerkammer, BÄK für Bundesärztekammer, BZÄK für Bundeszahnärztekammer, BPTK für Bundespsychotherapeutenkammer und:

NIX für Pflegepersonal, nämlich im Sinne von »is‘ nich«.

Was Pflegekammer? Die Rede ist keineswegs von Größe oder Ausstattung eines Krankenzimmers. Hier geht es um Politik oder, genauer gesagt, um die fehlende Präsenz der Pflege in dieser. Laut dem allzu oft zitierten ersten pragmatischen Axiom von Paul Watzlawick kann man nicht NICHT kommunizieren. Ob man allerdings gehört wird, hängt von diversen Faktoren ab.

Denn was täte eigentlich so eine Pflegekammer? Berufskammern sind als öffentlich-rechtliche Körperschaften landesrechtlich organisierte berufsständische Selbstverwaltungen, zuständig für Standesvertretung, Standesaufsicht und Standesförderung. Alle Angehörigen der Pflegeberufe wären Pflichtmitglieder. Die Rechtsaufsicht obläge den zuständigen Ministerien der Bundesländer. Eine der Funktionen wäre die Sicherstellung sachgerechter professioneller pflegerischer Versorgung nach aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen durch Förderung der Qualitätssicherung in der Pflege und Nutzung pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse. Zwei ihrer Aufgaben wären die Beratung des Gesetzgebers und die Beteiligung bei Gesetzgebungsverfahren.

Historischer Streifzug

Die Forderung nach einer Selbstverwaltung der Pflege, also einer Pflegekammer, ist alles andere als neu. 1903 sagte Agnes Karll anlässlich der Gründung der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands:

»Wir, die als selbstständige, selbstverantwortliche Menschen dem Leben gegenüberstehen, sind selbst schuldig, wenn wir nicht die rechtlichen Wege suchen und bahnen helfen, um fähig für unsere Lebensaufgabe zu werden. Wer soll denn unseren Beruf aufbauen, wenn wir es nicht selbst tun.«

Die damaligen und die heutigen Gründe sind nahezu identisch:

  • Überfremdung des Berufsstandes
  • Tätigkeitsdelegation der Ärzte
  • fehlende adäquate Stellenplannovellierung
  • fehlende angemessene Ausbildungsnovellierungen
  • mangelnde Klärung diffuser Rechtssituationen

So sieht’s aktuell aus

Im Dezember 2014 waren rund 5,2 Mio. Menschen in Deutschland im Gesundheitswesen tätig, somit 102.000 mehr als Ende 2013. Innerhalb von fünf Jahren erhöhte sich die Beschäftigtenzahl um 476.000, insbesondere in medizinischen Gesundheitsberufen. Allein in der Altenpflege stieg die Zahl von 2013 bis 2014 um 21.000. Den Löwenanteil hält dabei das Personal in ambulanten Einrichtungen mit 16.000. In 13.030 Pflegeheimen arbeiteten 685.447 Beschäftigte, in 12.745 ambulanten Pflegediensten 320.077 Beschäftigte. Sie versorgten und betreuten 2,63 Mio. gemäß SGB XI Pflegebedürftige, davon 1,86 Mio. zu Hause (statistisches Bundesamt 2013). Die Pflegebranche hat das 3-fache Wachstum der Gesamtwirtschaft, beschäftigt mehr Menschen als die Automobilindustrie, zahlt über 20 Milliarden € in Steuer- und Sozialkassen ein und erbringt eine Wertschöpfung von etwa 33 Milliarden €.

Wozu die geballten statistischen Daten?

Um auf das nur zu gerne vergessene Offensichtliche hinzuweisen: Wir sind richtig viele, werden jährlich mehr und leisten etwas! In einer Demokratie zählen auch Zahlen – oder sollten es jedenfalls. Die Pflege bietet eine sichere berufliche Perspektive, menschliche Kontakte, ein attraktives Berufsfeld mit zahlreichen Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten – so wirbt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in seinem Flyer für eine Ausbildung in der Altenpflege.

Zweimal zustimmend genickt, einmal gestutzt …attraktives Berufsfeld? Na ja, geht so! Seit Januar 2015 beträgt der Pflegemindestlohn 9,40 € bzw. 8,65 €. Damit liegt der Pflegemindestlohn in den neuen Bundesländern exakt 15 Cent, in den neuen zumindest 90 Cent über dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Nur mal so zum Vergleich: Ein ungelernter Maler erhält einen Mindestlohn von 9,90 €.

Die Pflege verfügt über keine Fachgewerkschaft, wie es z. B. der Marburger Bund für angestellte und beamtete Ärzte ist. Das ist unsere eigene Schuld; umso mehr, wenn man sich am Beispiel von Cockpit oder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer vor Augen führt, welche tarifliche Schlagkraft eine solche haben kann. Im Moment wird die Pflege von Ver.di vertreten, zwar nach IG Metall zweitgrößte Gewerkschaft, aber bezüglich unserer Belange aufgrund äußerst bescheidener Mitgliederzahlen aus den Reihen der Pflegenden wenig erfolgreich. Was Wunder, wenn ein Streik sämtlicher Gewerkschaftsmitglieder eines Krankenhauses kaum an den üblichen Krankenstand heranreicht. Davon einmal abgesehen; Gewerkschaften wie Arbeitgeberverbände sind traditionell gegen die Einrichtung von Pflegekammern. Beide befürchten sowohl Macht- als auch Einflussverlust. Den Arbeitgeberverbänden kann man’s nicht verübeln, bei den Gewerkschaften ist es ausredenlos beschämend.

Die Überalterung der Gesellschaft hat zu einer enormen Zunahme der Pflegelast geführt und wird diese in den kommenden Jahrzehnten noch steigern. Immer wieder wird von katastrophalen Bedingungen in Pflegeheimen berichtet. Doch auch die Krankenhäuser und Kliniken sind massiv von sinkender Pflegequalität bedroht. Personal- und Zeitmangel bestimmen den Dienst am Patienten. Die Personaldecke ist dünner als je zuvor, es fehlt an Fachkräften und an Pflegenachwuchs. Die Sorge, im Alter selbst einmal zum Pflegefall zu werden, beschäftigt viele. Die Pflege ist längst zu einem zentralen Thema in Politik und Medien geworden. Es wird von der Situation der Pflege gesprochen, kaum jedoch von der Situation der Pflegenden. Diese bleiben bei der Diskussion seltsam unsichtbar.

Mit 1,2 Mio. Beschäftigten, davon 885.000 Pflegerinnen und Pflegern, ist die Pflege die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen Deutschlands. Dennoch besitzt sie praktisch keinerlei politischen Einfluss. Die Trägerverbände, Ärztekammern und Kostenträger sind aktiv an den Entscheidungen in der Gesundheits- und Sozialpolitik beteiligt, die 1,2 Millionen Pflegekräfte nicht. Warum ist die Pflege so macht- und stimmlos? Absicht?

Aktuell gibt es in zwei Bundesländern Landespflegekammern

Erstes Bundesland seit dem 17.12.2014 Rheinland-Pfalz, zweites seit 15.07.2015 mit der Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein. Tatsächlich muss es aktuell heißen, denn die CDU will nach Aussagen ihres Spitzenkandidaten Ingbert Liebing bei einem Sieg in den Landtagswahlen die in Vorbereitung befindliche Pflegekammer kassieren. Das Gesetz ist verabschiedet, 2018 steht der Gründungstermin an, aber, so Herr Liebing, die Einrichtung bringe in der Sache nichts und die Zwangsbeiträge seien in der Branche höchst umstritten. Irritierenderweise möchte die CDU jedoch die IHK oder die HWK nicht abschaffen, obwohl auch diese Pflichtbeträge von ihren Mitgliedern erheben und, nolens volens, ja wohl auch nichts in deren Sache bringen. Einleuchtendste Erklärung: Als arbeitgebernahe Partei fungiert die CDU hier als Erfüllungsgehilfe der Arbeitgeberverbände.

Im Augenblick liegt ein Gesetzentwurf der bayrischen Staatsregierung zur »Vereinigung der bayerischen Pflege« vor. Der Bayerische Landespflegerat (BLPR) bezeichnet diesen Entwurf als deutliche Abwertung der gesellschaftlichen Relevanz der professionellen Pflege und wirkungslosen Beschwichtigungsversuch. Nun, man kann ihm den Frust nachfühlen. Warum? Völlig untypisch für Bayern soll zur Pflegekammer ein Sonderweg eingeschlagen werden:

  • keine gesetzliche Verankerung im Heilberufekammergesetz, wie bei den bereits bestehenden Kammern aus dem Gesundheitswesen gang und gäbe
  • Zulassung von Berufs-, Träger- und Arbeitgeberverbänden als freiwillige Mitglieder. Dem BLPR kommt in dem Zusammenhang der Begriff Partikularinteressen hoch, gleich nach der Galle.
  • keine Pflichtmitgliedschaft für professionell Pflegende, sondern eine Selbstverwaltung

Heißt im Klartext; keine demokratische Legitimation, nicht zuverlässig aus den Mitgliedsbeiträgen finanzierbar; somit aus dem Staatshaushalt. Unabhängigkeit? Planungssicherheit? Eher nicht. Der Landesregierung schwebt offensichtlich statt einer ernstzunehmenden berufsständischen Vertretung ein Hybrid aus öffentlichem Debattierclub und Taubenzüchterverein vor. Nichts gegen Taubenzüchter, aber dazu bräuchte niemand den amtlichen Segen einer Landesregierung.

1903 bis 2016. Der Patient ist hundertdreizehn Jahre alt und noch immer ist kein Ende in Sicht … Herzlichen Glückwunsch!

Ihr Kaj Nagorsnik

Bildnachweis: cc by geripal.org

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